Es ist höchste Zeit, aufzuhören zu glauben, dass alles dringend ist
- Rients Goerbitz

- 28. Okt.
- 3 Min. Lesezeit
Meine Großmütter gebrauchten das Wort „dringend“ nur, wenn es wirklich um Leben und Tod ging – ohne Übertreibung, ohne Spielraum. Für eine Generation, die durch Kriege, Mangelzeiten und harte Schicksale geprägt war, war klar, was zählt und was nicht. Sie wussten, was wirklich wichtig – und was einfach nur Lärm war.
Ich habe dieses Verständnis geerbt, doch heute lebe ich in einer Zeit, in der scheinbar alles dringend ist. Jede Nachricht, jede Aufgabe, jeder Wunsch verlangt sofortige Beachtung – auch wenn vieles davon problemlos einen Monat warten könnte.
Das Problem: Wenn alles dringend ist, ist am Ende gar nichts mehr dringend. Wenn alles wichtig erscheint, verlieren wir den Sinn für das wirklich Bedeutsame.

Die Wurzeln der modernen Dringlichkeit
Benachrichtigungen, Mails, Anrufe, Termine – alles buhlt um unsere sofortige Reaktion. Moderne Kommunikation hat das Gefühl geschaffen, Schnelligkeit sei gleichbedeutend mit Effizienz und Verantwortungsbewusstsein. Soziale Medien verstärken diesen Druck: Wer nicht sofort antwortet, gilt schnell als nachlässig oder desinteressiert.
Viele Unternehmen und Bildungseinrichtungen fördern diesen Reflex. Wer „Brände löscht“, wird belohnt, langfristiges Denken bleibt auf der Strecke. Das Gehirn lernt, jedes Signal als potenzielle Gefahr zu deuten. Und mit der Zeit wird selbst eine banale Aufgabe zur vermeintlichen Krise.
Auch unser Wohlstand trägt dazu bei: Wer kaum noch echte existentielle Bedrohungen kennt, steigert sich in Kleinigkeiten hinein. Eine verspätete Lieferung oder ein verschobener Termin werden plötzlich zum Drama. Schlimmer noch: Wir erwarten, dass andere denselben Alarmismus teilen.
Die psychologischen Folgen falscher Dringlichkeit
Je inflationärer wir den Begriff „dringend“ verwenden, desto mehr stumpfen wir ab – und desto größer wird der Stress. Alles erscheint gleichermaßen wichtig, bis wir die Fähigkeit verlieren, klar zu unterscheiden.
Die Folgen sind vielfältig:
Dauerstress: Jede Nachricht wirkt wie eine kleine Bedrohung. Das Stresshormonlevel bleibt dauerhaft hoch – mit Konsequenzen für Konzentration, Schlaf und Gesundheit.
Erschöpfung und Aufschieberitis: Wer ständig im Krisenmodus arbeitet, brennt aus. Irgendwann lähmt die Überforderung, und selbst kleine Aufgaben werden zur Belastung.
Abwertung echter Notfälle: Wenn jede Kleinigkeit als Katastrophe behandelt wird, reagieren wir in echten Krisen zu spät oder nicht angemessen.
Spannungen im Umfeld: Der ständige Druck auf sofortige Antworten zerstört Vertrauen und Gelassenheit in Beziehungen – privat wie beruflich.
Verlust des Überblicks: Wer nur noch auf das reagiert, was gerade brennt, verliert den Blick fürs Wesentliche. Langfristige Ziele, persönliche Entwicklung oder Selbstfürsorge bleiben auf der Strecke.
Lernen, was wirklich dringend ist
Unsere Großmütter wussten instinktiv: Nur sehr wenig im Leben duldet keinen Aufschub. Dringend ist nur, was unmittelbare, gravierende Folgen hätte, wenn man nicht handelt – etwa gefährliche Situationen, akute Gesundheitsnotfälle oder rechtliche Risiken.
Wie lässt sich das im Alltag umsetzen?
Atmen, bevor man reagiert. Kurz innehalten und fragen: „Was passiert wirklich, wenn ich das nicht sofort tue?“ – meist gar nichts.
Nach Bedeutung sortieren. Aufgaben klar trennen: kritisch, wichtig oder kann warten. Die meisten „Dringlichkeiten“ gehören in die letzte Kategorie.
Grenzen setzen. Andere werden weiter versuchen, ihre Prioritäten zu deinen zu machen. Aber ständige Verfügbarkeit ist kein Beweis für Engagement, sondern ein Rezept für Erschöpfung. „Nicht jetzt“ zu sagen, schützt die eigene Ruhe.
Vergangenheit reflektieren. Wie viele vermeintliche Notfälle haben sich am Ende von selbst gelöst oder waren gar nicht so tragisch, wie sie schienen?
Dringlichkeit ist die Ausnahme, nicht die Regel. Und das ist gut so. Wer wieder lernt, zu unterscheiden, was wirklich zählt, gewinnt Gelassenheit, Klarheit und Kontrolle über das eigene Leben zurück.
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